Manierismus: Auf der Suche nach Widersprüchen

Manierismus: Auf der Suche nach Widersprüchen
Manierismus: Auf der Suche nach Widersprüchen
 
Ab etwa 1520 begann sich die klassische Harmonie der Hochrenaissance aufzulösen, antiklassische Übersteigerungen von Ausdruck und Bewegung traten an ihre Stelle. Die zeitliche Eingrenzung dieser etwa bis 1600 andauernden, auch als Manierismus bezeichneten Phase ist wie bei allen Epochenbegriffen schwierig. Denn einerseits leiteten schon die herausragenden Meister der Hochrenaissance in ihren Spätwerken den Übergang zum Manierismus ein, andererseits wurden im späten 16. Jahrhundert entscheidende Fundamente für den Barock gelegt. Da überdies die Protagonisten der »klassischen Kunst« um 1500 - vor allem Leonardo da Vinci, Michelangelo und Raffael - in ihrer Vorbildlichkeit letztlich unangetastet blieben, ist es auch durchaus berechtigt, den Manierismus als Spätrenaissance zu bezeichnen.
 
Hatte die Hochrenaissance klar definierte, endlich begrenzte Räume wiedergegeben, so trat im Manierismus in allen Kunstgattungen das Bestreben in den Vordergrund, Unendlichkeit zu veranschaulichen. Malerei und Reliefplastik boten nun Perspektiven in unermessliche Fernen. In Kuppelausmalungen öffnete sich, weit über die Vorstufen des 15. Jahrhunderts hinausgehend und auf den Barock vorausweisend, der Himmel, sodass der Raum nach oben entgrenzt erschien. In der Architektur zeigte sich eine Vorliebe für lange Raumfluchten, die als Galerie später zum repräsentativen Bestandteil zahlreicher Schlossanlagen werden sollten. Die Malerei bildete darüber hinaus die »Weltlandschaft« aus: Von einem hohen Standort aus blickt der Betrachter auf geographische Regionen, die ganze Erdteile umgreifen. Malerei und Kartographie, die sich infolge der Entdeckungsreisen verfeinert hatte, standen hier in enger Wechselwirkung.
 
Wo der klar begrenzte Raum durch das Unendliche ersetzt wird, liegt die Aufhebung von Grenzen nahe. Diese Tendenz zeigte sich in der Architektur zuerst bei Michelangelo, der in Florenz in den Entwürfen für die Fassade von San Lorenzo (ab 1516) und im Treppenhaus der Biblioteca Laurenziana (ab 1524) die eindeutige Bezugsfläche für die plastische Durchgliederung aufhob: Zwischen den in die Wand eindringenden und den aus ihr hervortretenden architektonischen Elementen ist die den Raum abschließende Wand nicht mehr erkennbar.
 
Verwandte Phänomene der Aufhebung des Raums sind die Grenzüberschreitungen zwischen Betrachter- und Kunstraum sowie das Phänomen, dass eine Kunstgattung durch die andere ersetzt werden konnte. So führte etwa Giorgio Vasari 1546 in der Ausmalung der »Sala dei cento giorni«, dem nach der angeblichen Dauer der Bemalung benannten »Saal der hundert Tage«, im Palazzo della Cancelleria in Rom ein die Sinne verwirrendes Spiel zwischen Malerei und Realität vor Augen. Eine perfekte optische Täuschung schuf 1559/60 auch Paolo Veronese mit der Ausstattung der Villa Barbaro in Maser, indem er Skulptur und architektonische Gliederung ausschließlich mit malerischen Mitteln veranschaulichte. Architektur und Skulptur konnten sogar mit der Natur eine Symbiose eingehen wie in Bernardo Buontalentis Grotte im Boboli-Garten in Florenz (1583-93), im »Park der Monstren« der Villa Orsini in Bomarzo (um 1580) oder in der rund 25 Meter hohen Statue des »Appenin« im Park der Villa Demidoff in Pratolino bei Florenz (1581), die der Florentiner Bildhauer flämischer Herkunft Giambologna aus einem Naturfelsen herausmeißelte. Dieses Streben, die Unendlichkeit und die Aufhebung von Grenzen darzustellen, muss vor dem Hintergrund der Entdeckungsreisen des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts verstanden werden. Es entstand nun, im doppelten Sinne des Wortes, eine neue Weltanschauung. Die in sich ruhende »Alte Welt« konnte jetzt nicht mehr als Zentrum der Erde gelten, sondern schrumpfte zu einem verhältnismäßig kleinen Bereich innerhalb eines unermesslichen, größtenteils noch unerforschten Horizonts.
 
Hand in Hand mit der Aufgabe, Unendlichkeit zu veranschaulichen, ging der im Lauf des 16. Jahrhunderts vollzogene Wandel in der Darstellung von Bewegung und Bewegungsabläufen. Figuren, die sich kompliziert mit dem Raum verschränken, ersetzten die Gestalten der Hochrenaissance, die trotz aller Bewegungsfülle noch in sich geruht hatten. In der Skulptur wurde die im späten 15. Jahrhundert etwa von Andrea del Verrocchio entwickelte Mehransichtigkeit zur Allansichtigkeit erweitert. Ein hervorragendes Beispiel hierfür bietet die 1583 signierte Statuengruppe »Raub der Sabinerin« von Giambologna. Giorgio Vasari prägte für deren Formgebung den Begriff der »Figura serpentinata«, der »schlangenförmig gewundenen Figur«. Der Goldschmied und Bildhauer Benvenuto Cellini forderte von einer guten Statue, dass sie mindestens vierzig Ansichtsseiten haben müsse. Dem Betrachter wird damit ein fester Standort verweigert; er kann die Figur nicht mehr von einem festen Punkt aus erfassen, sondern muss sie umschreiten.
 
Die Maler hingegen versuchten in szenischen Darstellungen, die Festlegung auf einen einzigen Moment zu überwinden, indem sie einen Bewegungsablauf in verschiedenen Stadien wiedergaben. Tizians »Himmelfahrt Mariens« in Santa Maria dei Frari in Venedig (1516-18) oder Pontormos »Kreuzabnahme Christi« in Santa Felicità in Florenz (1526-28) sind frühe Beispiele für diese gestalterische Aufgabe, die ihre Wurzeln ebenfalls im 15. Jahrhundert hat. Auch diese Phänomene spiegelten weit reichende geistesgeschichtliche Umwälzungen wider. Gegen 1514 hatte Kopernikus die Lehre der Planetenbewegung revolutioniert: Nicht die Erde, sondern die Sonne bilde das Zentrum der Planetenbahnen; die Erde ruhe nicht in sich selbst, sondern umkreise die Sonne und drehe sich gleichzeitig um ihre Achse - eine Erkenntnis, die Galilei 1614 widerrufen musste. Zugleich zerbrach mit der Reformation die Einheit der christlichen Kirche. Als 1527 während des »Sacco di Roma« die Söldnerheere Kaiser Karls V. Rom plünderten, wurde dies weithin als Strafgericht für Sittenlosigkeit und übertrieben luxuriösen Lebensstil empfunden.
 
Wo Normen außer Kraft gesetzt werden, liegt die Tendenz zur Darstellung des Abnormen nahe. Daher wurden in der Malerei des Manierismus oft logische Raumkonstruktionen in Perspektive und Figurenmaßstab aufgehoben. Zahlreiche Maler wandten sich von der die Gegenstände bezeichnenden Lokalfarbigkeit der Früh- und Hochrenaissance ab und benutzten stattdessen emailartig changierende, durchscheinende und »unnatürliche« Farben. In den Figurenproportionen wurde der an der Antike orientierte Kanon häufig durch überlängte Körper mit extrem kleinen Köpfen ersetzt. Schließlich konnten Köpfe oder sogar ganze Gestalten aus Blumen, Früchten und Tieren zusammengesetzt werden. Der spanische Dichter Luis de Góngora, ein Zeitgenosse, rechtfertigte diese Seite der manieristischen Kunst mit den Worten: »Natürlichkeit: Was für eine Armut des Geistes! Klarheit: Was für eine Gedankenlosigkeit!«
 
Die Architekten entlehnten der Antike Elemente, die sie in einem Kontext verwandten, welcher der »klassischen« Gesinnung völlig widersprach. Am Palazzo del Te bei Mantua brachte Giulio Romano Gebälkstücke an, die scheinbar herabzustürzen drohen. Andrea Palladio griff in der Villa Rotonda vor den Toren von Vicenza den der Hochrenaissance verpflichteten Idealtypus des allseitig konsequent durchgestalteten Zentralbaus auf, erzielte aber einen überraschend entgegengesetzten Effekt: So sehr alle Einzelheiten auf die Mitte ausgerichtet sind, so sehr wird die Wirkung des Innenraums in das Gegenteil verwandelt; aus dem nahezu dunklen Zentrum fühlt sich der Besucher durch die vier hell erleuchteten Zugänge nach allen Seiten ins Freie gezogen. Zentripedale und zentrifugale Kräfte »kämpfen« miteinander.
 
In der Epoche des Manierismus begegnet man auch einer starken Intellektualisierung der Malerei und Skulptur, die sich in verschlüsselten Bildinhalten äußerte und sicherlich durch die gebildeten Auftraggeber mitbestimmt wurde. Im Gegensatz dazu stand eine ekstatische Versenkung in christliche Bildthemen. Besonders in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden in der Malerei unter dem Einfluss der Mystik und Irrationalität der Gegenreformation Visionen geschaffen, die alle sinnliche Erfahrung übersteigen. Wesentliche Voraussetzung hierfür war ein Wandel in der farbigen Gestaltung. In der Renaissance hatten die abgrenzende, fixierende Linie und die Farbe einander gleichgewichtig ergänzt. Im 16. Jahrhundert gewann, ausgehend von Leonardo da Vinci, besonders in der oberitalienischen Malerei die farbige Modulation der Umrisse gegenüber der Zeichnung an Bedeutung und ermöglichte damit die Ablösung der greifbaren Realität. Übernatürliche Geschehnisse, etwa wunderbare Erscheinungen. Christi oder Mariens, konnten so in einer irdischem Begreifen entzogenen Weise dargestellt werden. Besonders in den Werken Tintorettos und in den »Himmelslandschaften« Tizians sollte der Betrachter nicht zur Auseinandersetzung aufgefordert, sondern überwältigt werden. In gewisser Weise erlebte damit das vom Goldgrund bestimmte Bild des Mittelalters eine Wiederauferstehung, allerdings auf einer neuen Stufe der Naturerfahrung. Die restaurativen Bestrebungen der Gegenreformation zeigten sich dann in Mitteleuropa im frühen 17. Jahrhundert auch in unmittelbaren Rückgriffen auf mittelalterliche Architekturformen - etwa in der »Jesuitengotik«.
 
Der Manierismus ging von Florenz aus, dessen Kunst sich die Normen der Hochrenaissance nur bedingt angeeignet hatte, und verbreitete sich in wenigen Jahrzehnten über ganz Italien. In die Länder nördlich der Alpen gelangten die neuen Stiltendenzen auf verschiedenen Wegen. Studienaufenthalte deutscher und niederländischer Künstler waren seit dem frühen 16. Jahrhundert nahezu die Regel. Hatte aber noch Albrecht Dürer auf seinen beiden Reisen nach Italien (1494/95 und 1505-07) seine prägenden Eindrücke besonders von der Malerei der Hochrenaissance Venedigs empfangen, so führte der Weg der Künstler jetzt vornehmlich nach Rom. Jan Gossaert, Jan van Scorel, Maarten van Heemskerck und Frans Floris, die Hauptvertreter des niederländischen »Romanismus«, verbreiteten das Formengut des Manierismus in ihrer Heimat. Der Baumeister und Bildhauer Cornelis Floris, Frans' älterer Bruder, schuf in seinen Serien von Ornamentstichen die Vorlagen für zahllose Fassaden- und Innenraumausstattungen (»Florisstil«). Tatsächlich sind die Bauten außerhalb Italiens vornehmlich vom dekorativen Detail und nicht von einer klaren Grundstruktur bestimmt.
 
Für die internationale Ausbreitung des Manierismus war die »Schule von Fontainebleau« von gleicher Bedeutung wie der »Romanismus«. 1530 hatte König Franz I. von Frankreich den Florentiner Maler Rosso Fiorentino zur Ausstattung seines Schlosses in Fontainebleau berufen. Rosso schuf hier, seit 1532 zusammen mit dem Bologneser Maler Francesco Primaticcio, die Galerie Franz' I., ein Gesamtkunstwerk aus Architektur, Skulptur und Malerei, das weithin stilbildend wirkte. Während der folgenden Jahrzehnte wurden für den Ausbau des Schlosses vor allem französische und niederländische Künstler hinzugezogen, die das Formengut des Manierismus in die Zentren ihrer Heimatländer - etwa Paris und Antwerpen - übertrugen.
 
Am Ende des 16. Jahrhunderts bildete sich am Hof Kaiser Rudolfs II. in Prag ein »rudolfinischer Stil« aus. Maler verschiedener Herkunft und Schulung, neben dem führenden Niederländer Bartholomäus Spranger vor allem Hans von Aachen und der aus Basel stammende Joseph Heintz der Ältere, schufen einen einheitlichen Hofstil - ein Vorgang, der in der europäischen Kunst seit der Zeit des römischen Kaisers Augustus nicht mehr nachweisbar gewesen war. Verbindende Kennzeichen sind die Vorherrschaft der sich unmittelbar an das Gefühl wendenden farbigen Modulation über die eher den Intellekt ansprechende Linie und die Bevorzugung erotischer Bildinhalte, die fast stets in allegorisch stark verschlüsselter Gestalt erscheinen. Indem aber die besten Werke der am Prager Hof tätigen Maler ihre oberitalienischen Vorbilder zu einem aufrauschenden farbigen Pathos steigerten und zugleich den Detailreichtum manieristischer Kompositionen zur Einheit fügten, leiteten sie den Übergang von der Spätrenaissance zum Barock ein.
 
Prof. Dr. Manfred Wundram
 
 
Arasse, Daniel und Tönnesmann, Andreas: Der europäische Manierismus 1520—1610. Teilweise aus dem Französischen. München 1997.

Universal-Lexikon. 2012.

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